Voodoo – Magie für die Freiheit
Im Zuge des Kolonialismus wurden ab Mitte des 17. Jahrhunderts viele Bewohnerinnen und Bewohner aus Dahomey von ihrem König als Sklaven an europäische Händler verkauft. Bezeichnenderweise wird die Bucht von Benin, heute Teil von Benin und Nigeria, die „Sklavenküste“ genannt. Der Handel mit Menschen war dort zu dieser Zeit der größte Industriezweig. Es bestand eine „hohe Nachfrage“ an Arbeitskräften für die neu entdeckte Welt Amerika: Die Invasoren hatten dort durch eingeschleppte Krankheiten und Zwangsarbeit die einheimische Bevölkerung stark dezimiert, deshalb benötigten sie eine neue Dienerschaft – durch Gewalt fügsam gemachte Untergebene, die sie unterdrücken und ausbeuten konnten.
Auf diese Weise gelangten viele Menschen aus Dahomey u.a. nach Haiti, das heute bekannt ist für seine ausgeprägte Voodoo-Kultur. Die Sklaven wurden verschleppt und auf Schiffen unter grausamsten Bedingungen in die „Neue Welt“ gebracht. Um die höchste Anzahl von Menschen transportieren zu können, wurden die Sklavinnen und Sklaven flach nebeneinander gelegt, dann wurden Planken im Abstand von ca. 80 cm über ihnen befestigt, auf denen die nächste Schicht Menschen Platz finden musste. Auf diese Weise stapelten sich mehrere Lagen aufeinander. Die Gefangenen konnten sich die ganze Fahrt über nicht aufrichten, sie konnten sich nicht umdrehen und mussten an Ort und Stelle ihre Notdurft verrichten. Die Reise dauerte zwei bis drei Monate. Die Verschleppten verließen das Schiff halb tot vor Krankheit und halb verhungert. In Amerika war ihre Arbeit die schwerste: auf den Zuckerrohr-, Tabak-, Kaffee- und Baumwollplantagen, in Gold-, Silber-, Kupfer- und Diamantenminen. Die Sklavinnen und Sklaven mussten eine unbarmherzige Behandlung über sich ergehen lassen. Auf den Plantagen begann die Arbeit vor Sonnenaufgang und dauerte bis spät in die Nacht. Arbeitsverweigerung wurde mit harten Schlägen bestraft.
Schätzungen gehen davon aus, dass in der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zwischen 10 und 12 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen und als Sklaven zu leben. Viele starben schon auf der Überfahrt. Von den Überlebenden fanden sich ca. 40% in der Karibik wieder, hauptsächlich auf Haiti, Kuba und Jamaica.
Mit den Afrikanerinnen und Afrikanern kam auch Voodoo nach Amerika. Aufgrund verschiedener Faktoren – der religiösen Wurzeln der Gefangenen, des Charakters und der Beschaffenheit ihrer Glaubensvorstellungen und der soziokulturellen und geschichtlichen Voraussetzungen in Haiti – konnte sich Voodoo dort etablieren. Jedoch wurde die Religion der Geknechteten nicht anerkannt. 1685 erließ Ludwig XIV. den „code noir“, ein Gesetz, das Voodoo verbot. Der Papst ordnete die Zwangstaufe der in Amerika ankommenden Sklaven an. So kamen ihnen zwar Vorteile der christlichen Kultur zugute, wie freie Sonntage und Feiertage, sie konnten aber ihre eigene Religion nicht frei ausüben. Nach der Taufe durften sie an keiner anderen religiösen Feier teilnehmen. Wurden Schwarze des Voodoos verdächtigt oder dabei ertappt, mussten die Unterdrückten mit schwerwiegenden Folgen rechnen: Die „weißen Herren“ reagierten mit Folter und Brandmarkung. Daher nutzten die Sklavinnen und Sklaven viele Schlupflöcher. Mit viel Liebe und Hingabe schafften es die Menschen, ihre religiösen Rituale heimlich beizubehalten: Sie verwendeten z.B. die katholischen Feiertage, um ihren Voodoo-Glauben aufrecht zu erhalten. Die Rituale wurden teilweise als ganz normale Haushaltsaktivitäten getarnt. Ein Hausputz war dann nicht ein normaler Hausputz, sondern ein Ritual, bei dem das Haus z.B. mit Salz, Urin oder Menstruationsblut gereinigt wurde. Gesänge wurden umgeformt. Die Anhängerschaft sang christliche Lieder zu alten afrikanischen Rhythmen. Dabei spielten die Worte kaum eine Rolle. Das wichtige war der Rhythmus. Auch die Voodoo-Gottheiten waren verboten. Doch da es sich dabei um wirkliche Kräfte handelt, fanden sich alsbald die entsprechenden Erscheinungen in der christlichen Religion. Somit ist es nicht verwunderlich, dass auch Christus und Maria im Voodoo verehrt werden. Voodoo betrachtet das Christentum nicht als etwas feindselig Fremdes, sondern als eine Ergänzung. Die Sklaven glaubten an die einzelnen Personifizierungen der afrikanischen Göttinnen und Götter und an die Heiligen der katholischen Kirche. Mit großem Enthusiasmus nahmen die Schwarzen das Christentum auf. Dadurch entwickelte sich die starke Symbiose des Katholizismus und des Voodooismus – es entstand das, was heute Voodoo ist. Darüberhinaus finden sich aber auch Riten der indianischen Ureinwohner, der Freimaurerei, des Martinismus, des Spiritismus, des Islam, des Buddhismus und des Hinduismus im Voodoo.
Voodoo hat den verschleppten Afrikanerinnen und Afrikanern die Kraft und den Lebensmut gegeben, die Knechtschaft überhaupt zu überstehen. Doch in ihrer neuen Heimat bekam Voodoo zusätzlich noch eine ganz andere Bedeutung: Ziel dieser Religion wurde es, die Tyrannen zu entmachten und die Sklaverei zu zerstören. Die Angst vor Voodoo rührt aus der Angst der „weißen Herren“ vor der Rache ihrer schwarzen Sklaven. Es wurden zahlreiche Weiße vergiftet, verflucht, verhext und erlitten teilweise sehr unerklärliche Schicksale. Doch dies hatte auch Folgen für Voodoo, denn wann immer etwas Negatives, Unheimliches passierte, mussten dies die Voodooisten verantworten. Ein weiterer Grund, warum das Bild dieser Religion in der Öffentlichkeit verzerrt ist.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts gab es schließlich einen Aufruhr. Den Anfang machte ein Deserteur, in der Voodoo-Tradition auch Maroon genannt – ein Sklave, der sich zum Widerstand in die Berge zurückzieht. Es begann eine stille Offensive: Sklavinnen und Sklaven, die in der Nähe ihrer Unterdrücker arbeiteten, z.B. in Stallungen, Haus und Küche, verbargen ihre Zugehörigkeit zur Widerstandsbewegung und eines Tages waren alle Haustiere – Rinder, Schafe, Hühner usw. – vergiftet. Es sah so aus, als handele es sich um eine Epidemie, eine Seuche. Dann weitete sich das Sterben auch auf die „weiße Herrschaft“ aus. Die Unterdrückten wehrten sich. Letztendlich wurde aber der Maroon, der Kopf der Rebellion, erwischt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Für viele Schwarze gilt er heute noch als unsterblich.
Der Höhepunkt fand am 14. August 1791 in Bois-Caïman, dem “Krokodilwald”, statt. Hier versammelte der Voodoopriester Boukman Dutty eine beachtliche Anzahl von Unterdrückten. Eine Voodoo-Zeremonie wurde durchgeführt, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Rache an den Weißen schworen. Kurz darauf starben viele Plantagenbesitzer unter mysteriösen Umständen, der Krieg hatte begonnen! Unter den Anführern Louverture, Dessaline, Pétion und Christophe fand die Revolution der Schwarzen auf Haiti statt. Sie dauerte 13 Jahre lang, bis zur Unabhängigkeit Haitis im Jahre 1804. Ohne Zweifel ist, dass nicht zuletzt der Glaube der Rebellen an die magische Macht ihrer Göttinnen und Götter den Unterdrückten endlich den Sieg einbrachte. Haiti war somit die erste Enklave in Lateinamerika, die ihre Unabhängigkeit erlangte, die Sklaverei verbot und die Gleichheit aller vor dem Gesetz einführte.
Danach folgte eine Zeit, die ausschlaggebend war für die Verwurzelung des Voodoo in Haiti. Von 1804 bis 1860 war die haitianische Kirche von Rom unabhängig. Der Vatikan weigerte sich, Haiti als Republik anzuerkennen. Somit hatte Voodoo genug Zeit, sich fest mit katholischen Ritualen zu mischen und zu einer seltsamen Erscheinung von Glaube und Magie zu werden. Ein Beispiel dafür ist der „prêtres savanne“ (Buschpriester), der die christlichen Elemente im Voodoo pflegt.
Trotz der Befreiung von der Sklaverei kam es immer wieder zur Verfolgung der Voodoo-Anhängerschaft. Seit 1860, mit der Unterzeichnung des römischen Konkordats, war der Katholizismus wieder Staatsreligion. Ein Gesetzestext aus dem Jahre 1864 lautet: „Alle Hersteller von Ouangas, Caprelatas, Vaudoux, Dompedre, Macandale und anderer Zauber werden zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 150 Gourdes verurteilt. Bei einem zweiten Verstoß beträgt die Strafe zwischen sechs Monaten und zwei Jahren Gefängnis sowie eine Geldstrafe zwischen 300 und 1000 Gourdes. Alle Tänze und sonstigen Praktiken, die den Fetischismus und den Aberglauben fördern, werden als Zauberei betrachtet und wie oben bestraft“.
Ende des 19. Jahrhunderts verschlimmerte sich die Situation, als die katholische Kirche vehement begann, gegen die Vermischung von Christentum und Voodoo vorzugehen.
Einen Höhepunkt erreichte die Verfolgung allerdings im Jahre 1939 unter der Regierung von Elie Lescot. Die Staatsmächte unterstellten den Gemeinden die allgemeine Anwendung von Giftmischungen und hatten damit die Rechtfertigung, Voodoo massiv zu bekämpfen. Es gab einen Aufruf, alle Voodoo-Utensilien abzugeben und den Loas abzuschwören. Durch diese Kampagne gaben viele ihren Glauben auf. In der Gegend „Marbial Tal“ wurden alle Hounforts gewaltsam ausgeräumt und zerstört. Doch am meisten trafen die Leute die Razzien, die fanatische Christen tagtäglich durchführten. Wurden die heiligen Gegenstände, z.B. der Pierre Tonnerre, nicht freiwillig herausgegeben, entfernten die Glaubenseiferer diese gewaltsam. Sie schlugen auch den Mittelpfeiler der Säulengänge entzwei, von dem die Loas herabsteigen, und zuallerletzt fällten sie die heiligen Bäume, die Wohnorte der Loas.
Heutzutage ist Voodoo in Haiti eine offiziell anerkannte Religion. Sie ist außerdem in der Dominikanischen Republik, in Ghana, Louisiana, Togo und Benin anzutreffen. In Benin ist Voodoo sogar Staatsreligion. Eng verwandte Religionen finden sich in Kuba (Santeria) und in Brasilien (Umbanda, Macumba, Candomblé).
Tatsächlich grenzt es an ein Wunder, dass die Religion Voodoo unter diesen geschichtlichen Umständen überhaupt noch existiert. Sie hatte zu kämpfen mit Unterdrückung, Verfolgung und Verleumdung – ihr wahres Gesicht muss erst wieder ins Bewusstsein der Menschen gebracht werden. Trotzdem hat sie bis heute den Ruf, eine der mächtigsten Religionen der Welt zu sein: Reale Kräfte lassen sich eben nicht verdrängen – wie ein Element bleiben sie immer bestehen.